Geschichte der Wolgadeutschen

Der Kolonist David Lieders zu Werchnaja Dobrinka war anfangs der fünfziger Jahre Obervorsteher des Ustkulalinkaschen Kreises. Lieders war ein äußerst ehrbarer Mann und gab den Herren auf dem Kontor bei jeder Gelegenheit zu verstehen, daß er nichts weniger als geneigt sei, ihre ungerechten Anforderungen zu erfüllen, weshalb er sich denn auch einer sehr geringen Gunst feiner Vorgesetzten erfreute, ohne daß man es jedoch gewagt hätte, ihn vor Ablauf seiner Dienstzeit zu entfernen, da er zugleich ein reicher und allenthalben geachteter Mann war.
Eines Abends war ich bei Lieders zu Gaste, als der Aufseher Alexander Thaler bei ihm abstieg und sofort nach seinem Erscheinen, ohne die geringste Rücksicht auf meine und des Kreisbeisitzers David Wollert Gegenwart zu nehmen, sich mit der Frage an Lieders wandte: „Was würden Sie mir zahlen, Herr Lieders, wenn ich Sie wieder als Obervorsteher wählen ließe ?"
Hierauf folgte in äußerst verächtlichem Tone die Antwort:
— Wenn es Ihnen schwer fällt, die Wahl ohne Ihren persönlichen Nutzen zu veranstalten, so müssen Sie umgekehrt fragen, nämlich was ich Ihnen zahlen werde, wenn Sie jede Stimme mit Entschiedenheit von mir abwenden werdend
„Auch dies mag gelten", versetzte Thäler mit augenscheinlicher Zufriedenheit, „und m diesem Falle verlange ich nur 25 Rubel.

[ 123 ] Lieders entfernte sich und erschien nach einigen Sekunden wieder, einen Fünsundzwanzig-Rubelschein diesem schamlosen Verächter aller Ehrbarkeit, ohne ein Wort zu reden, darreichend.
„So", sagte der Diener des Kontors, „nun können Sie versichert sein, daß nicht Sie, sondern Christoph Schneider zu Nishnaja Dobrinka, zu dem ich mich sofort begeben werde, als Obervorsteher eures Kreises gewählt werden wird", — und entfernte sich, nachdem er noch den Inhalt der ihm vorgestellten Flasche in mehr als anständiger Weise untersucht hatte.