SIBIRIEN
In Kultur und Wirtschaft
Von Kurt Wiedenfeld
A.Marcus und E.Weber Verlag in Bonn
1916
Deutsche Bauern auf Kosakenland
Als wir ,von Moskau kommend, in Omsk nach fast viertägige fahrt zum ersten mall den sibirischen …Zug verließen, da drängte es uns so rasch wie möglich uns etwas Bewegung zu verschaffen und die Großstadt zu besichtigen, die uns da zuerst einen Einblick in sibirisches Leben geben sollte.
Geradezu selbstverständlich ging es zum Bazar, jener eigentümlich orientalischen Mischung vom täglichem Markt und von Ladenkonzetration, wo sich fast der ganze Güteraustausch der Stadt selbst und des benachbarten platten Landes zu vollziehen pflegt. Wir schlenderten durch die Reihen der Läden hindurch und kamen bald auf den weiten Platz, auf welchem die Bauern der Umgebung ihr Getreide zum verkauf feilboten. Da schlugen Töne plötzlich an unser Ohr, die uns stutzig machen. Es war offenbar nicht russisch, was da gesprochen wurde. Und als wir näher hin hörten, da erkannten wir es deutlich: es waren ein paar Bauern, die sich in ausgeprägt sächsischem Dialekt miteinander und mit einem jüdischem Kaufmann unterhielten, der dass eigentümliche Jiddisch sprach. Jetzt fiel uns auch auf, daß die Bauern neben einem Wagen standen, der einem deutschem Leiterwagen genau gleich sah und gar nichts von einer russische Tilega an sich hatte. Und in der tat: es waren Deutsche Bauern, die da ihren Geschäften nachgingen. Ein schönes erstes Erlebnis auf sibirischem Boden.
[spoiler=]Im ganzem sollen etwa 20000-25000 Menschen deutscher Herkunft im Bezirke von Omsk sich auf dem Lande niedergelassen haben. Es sind Nachkommen jener Bauern, welche im Laufe des 18.Jahunderts, namentlich unter der Großen Katharina, aus deren Heimat, Anhalt-Zerbst, und auch aus dem Schwabenland nach dem südlichen und südöstlichen Russland hinübergezogen worden sind. Ihnen ist der Raum, auf dem sie ursprünglich angeseßt wurden, inzwischen auch eng geworden, obschon sie in wesentlich höherem Maße als der russe ihren Betrieb intensiver gestaltet haben. Und auch sie haben die Eröffnung der Sibirischen Bahn benutzt, sich im geliebte Lande des noch freien Grund und Bodens neue Siedlungsmöglichkeiten zu suchen. Von der Krim her ebenso, wie aus der Gegend von Samara und Saratow sind sie über den Ural hinübergegangen und am Irtysch nördlich wie südlich der Bahnlinie zu vorläufige Ruhe gekommen.
Bei vielen Deutschen ist im Unterschied zu den Russen die Umsiedlung vollständig und ausschließlich auf die eigene Kraft gestellt. Der Russische Staat, der von ihnen, als seine Untertanen, die Erfüllung der militärischen Dienstpflichten genau so fordert, wie von allen anderen Volkselementen, der sie natürlich auch zur Steuerzahlung in der gleichen Weise heranzieht,- er lehnt es doch nachhaltig ab, in der Frage der Landverteilung den immer noch als fremd empfundenen Deutschen dem russischen Bauer gleichzustellen. Infolgedessen gibt es für jenen weder eine Fahrpreisermäßigung, noch auch einen Anspruch auf freie Landüberweisung. Er muss den vollen Fahrpreis zahlen, und das besagt etwas bei den großen Entfernungen, die zwischen der Krim oder der Wolga und dem Irtyschgebiet zu überwinden sind; und er hat das Land zu kaufen oder zu pachten, auf dem er sich dann drüben niederlassen will. Wären nicht die deutsche Dörfer auf russischem Boden durch ihre tüchtige Arbeit und ihre Sparsamkeit zu immerhin ansehnlichem Wohlstand gelangt, so wäre es ihnen wohl schwerlich möglich, durch die Aussendung überschüssiger Elemente sich Luft zu verschaffen. So aber pflegen die Kosten der Übersiedlung nicht vom Einzelnen, sonder größtenteils von seinem Dorf getragen zu werden. Man gibt auch das erforderliche Ackergerät, wie überhaupt die erste Einrichtung gleich mit und übernimmt so all die Ausgaben, welchen beim Russen der Staat sich unterzieht.
Zum Landbesitz aber kommt der deutsche Sibirienwanderer dank dem glückliche Zufall, dass die Kosakenheere ihre Reservate und die Kosakenoffizieren ihren Landanteil in großem Umfang nicht selbst bewirtschaften, sonder durch Verpachtung und selbst Verkauf sich nutzbar machen. Außerdem besteht auch die Möglichkeit, Kirgisenland zu erwerben. Nur dort, wo solche Gelegenheiten geboten werden, kann der deutsche Bauer sich in Sibirien niederlassen. Das ist ein Nachteil, insofern die Pacht und Kaufpreise natürlich regelmäßig hoch gehalten werden und jedenfalls zur staatlichen Grundsteuer als Produktionskosten hinzutreten; ein Vorteil aber, weil sich daraus eine starke räumliche Konzentration der deutsche Elemente in einem Gebiet ergibt, das durch die Nähe der Irtysch und der alten Kosakenstädte sich besonders günstiger Absatzgelegenheiten erfreut.
Sehen wir uns nun den Betrieb des deutschen Bauern an, so fällt sofort die andere Siedlungsweise auf. Zum größten Teil nämlich haben die Deutschen, entgegen Gewohnheiten ihrer alten deutschen und auch ihrer späteren russische Heimat, in Einzelhöfen sich angesetzt. Wie sie das Land erwerben konnten, mussten sie wohl oder übel sich anbauen. Umso mehr konnten sie aber die Wohnweise der alten Heimat festhalten: an der Art, wie Wohnhaus und Ställe zueinander gestellt sind, ineinander übergehen oder sich voneinander trenen, kann man noch heute in Sibirien die deutsche Gegend wieder erkennen, aus welcher der Vorfahr des Sibiriers nach Russland gekommen ist. Die einzige Gelegenheit, wo wir auf dem Lande Steinhäuser gesehen haben, hat sich auf deutschen Bauerhöfen dargeboten, und vollends ist von entscheidender Bedeutung, dass ebenso selbstverständlich, wie bei den russischen Siedlern feste Ställe fehlen, sie bei den deutschen vorhanden sind. Ja man kann beobachten, dass die deutsche Liebe zum Vieh auch in der Reihenfolge der Bauten sich äußert: ist erst die notwendigste Unterkunft für Mensch und Vieh hergerichtet, so kommt für jede Verbesserung der Bauten zuerst der Viehstall und zuletzt das Wohnhaus in Betracht. Hier herrscht auch bereits in großem Umfang die Stallfütterung, auf welche demgemäß der Anbau des Feldes eingerichtet ist.
Die ganze Feldbenutzung unterscheidet sich daher grundsätzlich von der Art der russischen Dörfer. Zwar kann man natürlich an so abgelegener Stelle noch nicht etwa an Fruchtwechsel denken. Aber die Dreifelderwirtschaft, die da herrscht, ist doch dem Klima insoweit angepasst, als man die Winterfrucht, welche zu benutzen die Starrheit des Winter verbietet, durch Futtergewächse zu ersetzen strebt, die nun tatsächlich doch für die Ausnutzung der Bodenkraft eine Art Fruchtwechsel bedeuten; nur dass man die Brache noch beibehält, die man ja auch für den sommerlichen Weidegang des Viehes nicht entbehren kann. Daraus ergibt sich dann eine natürliche Düngung, die sich alle paar Jahre wiederholt, und der solide Stall sorgt dafür, dass auch Stalldünger auf den Ackerboden gebracht werden kann. Kein Wunder daher, daß die Erträge der deutschen Betriebe im ganzen Bereich als groß und zuverlässig bekannt sind und beneidet werden. Trotz aller Vorrathaltung, die auch bei ihnen geübt werden muss, pflegen gerade die deutsche Höfe verhältnismäßig viel Getreide zum verkauf zu bringen.
Fühlung mit der russischen Nachbarschaft besteht in Sibirien ebenso wenig wie im europäischen Russland. Obschon alle diese deutschen Bauern ihre langen Militärjahre mit der Waffe absolviert haben, pflegen sie doch die paar russischen Worte, die ihnen dabei geläufig geworden sind, in der deutsche Umgebung ihrer Heimat rasch wieder zu vergessen. Eine große Anzahl kann sich daher auf russisch nicht verständigen, nicht einmal- wie uns einer der jüngeren Bauern auf dem Omsker Markte erklärte- ein Tröpfchen Wasser fordern. Alle sind sie vor allem aber ihrem Protestantismus treu geblieben. Mischehen zwischen Deutschen und Russen sind gerade in der Bauernbevölkerung eine außerordentlich große Gelegenheit und in Sibirien wohl überhaupt noch nicht vorgekommen.
Trotzdem ist von einer Fühlung mit der altdeutschen Heimat nicht das Leiseste mehr vorhanden. Die meisten von denen, die ich in der Kirgisensteppe oder bei Omsk danach fragen konnte, hatten keine Ahnung, aus welcher Gegend Deutschlands ihre Vorfahren eigentlich gekommen waren. Nur ein einziges mal vermochte ein Schullehrer mir zu sagen, das Königsberg die Heimat seiner Familie gewesen wäre, und das war ein Mann, bei dem erst der Großvater die Wanderung nach Russland angetreten hatte. Alle übrigen verrieten zwar durch den Dialekt, aber nicht aus eigenem Wissen die Herkunft des deutschen Dorfes, aus dem sie ursprünglich wohl stammten. Das Einzige auch, was sie an deutschen Verhältnissen interessierte und wonach uns so ziemlich jeder gefragt hat, das waren die Verhältnisse der militärischen Dienstpflicht, vor allem die Dauer des aktiven Dienstes. Sie fühlten sich zwar offensichtlich alle in einem Gegensatz zur eigentlich russischen Bevölkerung, dabei aber durchaus als Glied des russischen Staates und als Untertanen ihres Zaren.
Wie wird es diesen prächtigen Elementen jetzt wohl ergehen? Schon lange vor dem Kriege sah die russische Bauernbevölkerung Sibiriens und auch die russische Verwaltung mit einiger Missgunst auf diese kräftig Vorwärtsstrebenden und ihnen deshalb innerlich so fremdartigen Elemente. Der Deutsche hat auch in Russland nichts von einem „Sinn aufs Weite“ bekommen, welchen der Russe bei sich selbst so hoch schätzt. Er ist im großen ganzen der genau Arbeiter geblieben, welcher Mittel und Schmeck miteinander in Einklang zu halten bemüht ist und Schritt vor Schritt seinen wirtschaftlichen Weg nimmt. Er hat auch das Sparen gelernt. Ja man kann sagen, die Notwendigkeit, für die jüngeren Brüder, die nicht in des hof des Vaters hineinerben und doch auch von der Regierung kein Land zugewiesen erhalten, zum Landkauf Barmittel zusammen zu bringen, - diese Notwendigkeit ist ein Glück für jene deutsche Bauernschaft; gibt sie doch immer von neuem den Anstoß, sparsam zu wirtschaften und an die Zukunft zu denken. Aber freilich dem Russen macht den Deutschen nichts so unsympathisch, wie dieses Bedenken der Zukunft. Ein gutes Stück Sorge fügt sich dabei wohl in die Abneigung und Missgunst hinein: man sieht die Deutschen vorwärts kommen und weiß nicht, wo sie damit halt machen werden. Schwerlich wird daher jene Verwaltungspolitik, welche den ganzen Westen des europäischen Russland von den deutschen Bauernelementen zu reinigen bestrebt ist, jetzt im Kriege ohne Rückwirkung auf die örtlichen und auf die sibirischen Bauern bleiben. Wir werden gut tun, im Friedensschluss und nachher uns auch dieser Mitglieder der deutschen Volksfamilie zu erinnern. Das gibt für unseren alten und neuen Ostmarkt ein Siedlerelement von nachhaltiger Kraft und erheblicher Anpassung. Nichts kann ja für uns erwünschter sein als Bauer zu finden, für die unser deutscher Osten eine Erleichterung der Lebens und Arbeitsbedingungen bedeutet, und die andererseits streng daran festhalten, das der väterliche Hof eine untrennbare Einheit bilde und dass aus den Ersparnissen jeder Generation neuer Besitz der jüngeren Brüder sich entwickelte. Denkbar feste Verankerung im Grund und Boden bedeutet festhalten der ländlichen Bevölkerung im ländlichen Bereich.[/spoiler]