Es waren fünf Kolonien
Das Auswanderungslied "Es waren fünf Kolonien" ist vermutlich in den Jahren nach 1875 im Kontext der Amerika-Auswanderung russlanddeutscher Siedler aus der Wolgaregion entstanden. Gedichtet wurde es als Parodie auf die Ballade "Es waren drei Gesellen". Es thematisiert verschiedene Aspekte der Auswanderung nach Brasilien. Einzelnen Sängern aus der Wolgaregion war das Lied noch um 1920 im Gedächtnis. Aus den USA ist außerdem eine stark umgedichtete Fassung überliefert, die dort in den 1970er Jahren gesungen wurde.
I. Erstmals aufgezeichnet wurde das Auswanderungslied von den "fünf Kolonien", die sich darum "bemühen" nach Brasilien zu ziehen, zwischen 1914–1925 in der Wolgaregion. Im Deutschen Volksliedarchiv sind zwei weitgehend identische Fassungen dieses Liedes belegt (Edition A). Entstanden ist "Es waren fünf Kolonien" aber wohl schon in den 1870er Jahren, zu Beginn der Auswanderungswelle russlanddeutscher Siedler nach Nord- und Südamerika. Das Lied basiert auf einer realen Begebenheit: der Erkundungsreise einer kleinen Delegation aus den Wolgakolonien, die zum Ziel hatte, die Auswanderung nach Brasilien vorzubereiten. Gesungen wurde es auf die Melodie der Ballade "Es waren drei Gesellen", die damals auch im russlanddeutschen Raum recht populär war. Ihr Text findet sich schon in der ersten wolgadeutschen Liedsammlung von Johannes Erbes und Peter Sinner (1914). Der Liedtext der "fünf Kolonien" greift parodierend die Anfangsverse ("Es waren drei Gesellen, die täten, was sie wellen") und den Tenor der Vorlage auf: hier wie dort geht es um enttäuschte Erwartungen.
II. Ein weiterer Rezeptionsstrang führt regional nach Nordamerika: Teile der dritten und vierten Strophe von "Es waren fünf Kolonien" bilden die erste Strophe eines historiographischen und identitätsstiftenden Liedes russlanddeutscher Nordamerika-Migranten (Edition B). Hier erhält der Text ein neues inhaltliches Gepräge: er handelt von den Ängsten und Unsicherheiten der Auswanderer von Russland in die USA, den Vorbehalten, denen sie unterwegs begegnen und schließlich der glücklichen Ankunft in der neuen Heimat. Diese stark fragmentierte und veränderte Version von "Es waren fünf Kolonien" wurde noch in den 1970er Jahren von russlanddeutschen Einwanderern in Kansas gesungen. Die Melodie des Liedes wurde offenbar relativ konstant tradiert: die Tonaufzeichnung des nordamerikanischen Einwandererliedes ist fast identisch mit der Melodie der "Drei Gesellen", wie sie in Georg Dinges‘ Liedsammlung "Wolgadeutsche Volkslieder mit Bildern und Weisen" (1932) abgedruckt ist.
http://www.liederlexikon.de/lieder/es_w ... f_kolonien
A. Es waren fünf Kolonien
(Wolgaregion ca. 1914–1930)
A 1. "Da kamen sie zurück" (Wolgaregion ca. 1914-1925)
1. Es waren fünf Kolonien
Sie taten sich bemühen
Sie wollten ziehen fort
An einen andren Ort
Amerika zu sehn
Das war ihr letztes Wort.
2. Sie wählten fünf Personen
Die sollten sich nicht schonen
Zu suchen gutes Land
Im Amerikaner Sand
Dort wollten sie hinreisen
von hier aus dem Rußland.
3. Die guten Männer waren
Nach Amerika gefahren
Zu schiffen nach Norden hin
Das war nicht ihr Sinn
Brasilien war erwählet
Da kamen sie nicht hin.
4. Die Reise war vollzogen
Gar manches war gelogen
Da kamen sie zurück
Das war ihr großes Glück
Sie brachten weiter gar nichts
Als jeder sein Baschlyk.
Aufzeichnung aus mündlicher Überlieferung durch Pater Peter Weigel, o. O., o. J. [vermutlich zwischen 1914–1925, russlanddeutsche Siedlung Mariental], Gewährsperson nicht genannt. Zitiert in: Viktor Schirmunski: Das kolonistische Lied in Rußland. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 37/38 (1927/28), S. 182–215 (Zitat auf S. 195).
DVA: VZ 1170
Dort folgende Angaben zur Melodie: Schirmunski ordnet dem Text die Melodie der "bekannten alten Ballade von dem plauderhaften Knaben: 'Es waren drei Gesellen'" zu.
Editorische Anmerkung:
Strophe 4: Schirmunski erläutert "Baschlyk" als "wollene Kapuze, die in Rußland im Winter getragen wird (türk. Wort)." (a. a. O.).
A 2. "Wir schifften wieder zurück" (Wolgaregion vermutlich 1920er Jahre)
Text: anonym
Scan der Editionsvorlage
1
1. Es waren ihrer fünf Kolonien,
Sie tätan sich bemühen,
Sie wollten ziehen fort
An einen andren Ort:
America zu sehen,
Das war ihr Losungswort.
2. Sie wählten sich Personen
Die sollten sich nicht schonen,
Sie sollten suchen Land
An Amerikas Gestrand
Dorthin wollten sie jetzt ziehen
Fort aus dem Rußenland.
3. Die Reise war vollzogen,
Gar manches war gelogen.
Wir schifften nach dem Norden
Das war ja nicht im Sinn
Brasilien war erwählet,
Dort kamen wir ja hin.
4. Wohlan, in Gottes Namen!
Den Mut lasst nicht erlahmen
Daß ihr ankommen seid,
Das hat uns sehr erfreut.
Doch wie wollen wir es machen
Mit unsern armen Leut'?
5. Wir wurden viel betrogen
Und noch viel mehr belogen
Wir schifften wieder zurück,
Das war ein großes Glück,
Wir brachten weiter nichts,
Als jeder sein’ Baschlik.
http://www.liederlexikon.de/lieder/es_w ... n/editiona
B. Die Reis', die war erzogen
(Kansas 1975)
Text: anonym
Melodie: nach der Ballade "Es waren drei Gesellen"
Scan der Editionsvorlage
1 2
1. Die Reis', die war erzogen,
ein manches war gelogen.
Wir schiffn nach Norden hin,
das war ja nicht im Sinn,
Brasilia war erwählet,
da kamen wir nicht hin.
2. Da fahren wir bis in der Mitte,
da zittren uns ja alle Glitte,
ei ei, was machen wir?
Wir gehen ins Quartier.
Vielleicht kriegn wir was zu essen,
ei sonst verhungren wir.
3. Nach Amerika sind wir gekommen,
sie sagen: "Das sind ja die Frommen."
Da steigen wir herunter
und stellen uns dahin,
sprach einer zu dem andren:
"Ach, Freunde, jetzt wohin?"
4. Wir sind ja all recht gut empfangen
und können jo nichts mehr verlangen.
Wie glicklich sein jo wir,
daß wir sind alle hier,
jetzt fallen wir auf der Knie
und danken Gott dafür.
Tonaufnahme nach mündlicher Überlieferung von Lawrence A. Weigel in Hays/Kansas (USA) am 10. Juni 1975. Übertragung: G. Gröger (Deutsches Volksliedarchiv), 1975.
DVA: A 211402
Dort folgende Melodievarianten:
Eswaf_b2090702.png
http://www.liederlexikon.de/lieder/es_w ... n/editionb